

Der Wandel im Handel hat nicht erst mit der Pandemie eingesetzt, doch Corona wirkt wie ein gigantisches globales Förderprogramm für den E-Commerce.
Es gibt viele gute Gründe, warum bestimmte Erzählungen immer reizen. Vom Tellerwäscher zum Millionär ist so eine, der sich niemand entziehen kann. Ewig spannend sind auch Berichte, die sich an den Kampf des kleinen David gegen den Riesen Goliath anlehnen. Selbst wenn kaum einer weiß, warum die beiden überhaupt gegeneinander kämpften oder warum der Schafhirte den Krieger auch noch köpfte, nachdem er ihm mit dem Stein und der Schleuder bereits den Garaus gemacht hatte, steckt in der Dramaturgie Stoff für Träume. Wenn Kleine Große besiegen wird Hoffnung gekitzelt und Kampfgeist geweckt.
Überall reizen diese Erzählungen. Auch in Innsbruck, wo Mario Eckmaier, Digitalisierungsbeauftragter der Tiroler Wirtschaftskammer, in einer unangenehmen Lage war, als er von einer Tiroler David gegen Goliath-Geschichte begeistert wurde. „Ich lag mit einem grippalen Infekt daheim und habe mir bei der Wagner’schen ein Buch bestellt, das mir in 70 Minuten per Fahrradboten nach Hause gebracht wurde. 70 Minuten. Da dachte ich, Wahnsinn, diese Tiroler Buchhandlung schlägt Amazon auf dem ureigenen Terrain. Das ist herrlich“, sagt er.
Als Online-Buchhandlung hat Amazon begonnen. 1995 war das. 1996 hatte das Unternehmen schon einen Umsatz von 15,7 Millionen Dollar erzielt und der Rest ist eine Geschichte, die nicht nur Amazon-Gründer Jeff Bezos sondern auch die Umsätze ins All schießen und die Handelswelt nachhaltig Kopf stehen ließ. Nicht selten werden Amazon & Co. als Totengräber des stationären Handels bezeichnet. Und die Corona-Lockdowns als deren Gehilfen. „Es gibt ein Zitat von Marc Twain, das auch für den Handel sehr gut passt: Die Berichte über meinen Tod sind stark übertrieben“, lässt sich Mario Eckmaier die Rolle des unverbesserlichen Optimisten nicht nehmen und hält fest: „Da wird vom Tod berichtet und gleichzeitig meldet sich der ganz lebendige, vitale Handel und sagt, ich bin doch gar nicht tot.“
Kopf schlägt Kapital
Die Wagner’sche Buchhandlung, die älteste Buchhandlung Tirols, ist ein schönes Beispiel dafür. Nicht nur für umtriebige Lebendigkeit, sondern auch dafür, das kaufmännische Know-how mit den Kernkompetenzen und den digitalen Möglichkeiten so zu verknüpfen, dass auch in der Krise Meilensteine gesetzt und übermächtigen Gegnern Schnippchen geschlagen werden konnten. Dass seit Beginn der Pandemie vier neue Standorte eröffnet wurden, spricht für die Kraft des Stationären. Und ein jüngst auf börsenblatt.net, der großen Online-Plattform des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels erschienenes Interview mit Geschäftsführer Markus Renk zeigt, dass die Wagner’sche Kraft weit über die Tiroler Grenzen hinaus wahrgenommen wird. Renk, der auch Funktionär in der Fachgruppe der Buch- und Medienwirtschaft Tirol ist, hielt – in diesem Rahmen nach seinen Erwartungen für 2022 befragt – fest: „Ich denke, dass wir auch 2022 mit Einschränkungen leben müssen, die Devise ist daher auch 2022 das Beste aus der Situation zu machen. In jeder Krise stecken auch Chancen. Wir konnten zum Beispiel unseren Webshop-Umsatz seit Corona verachtfachen.“
„Mit der richtigen, systematischen Vorgehensweise ist auch für die Kleinen viel möglich. Hier schlägt Kopf Kapital.“
Einer Erhebung des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels zufolge, sind die Online-Umsätze der Buchhandlungen im Jahr 2020 am Publikumsbuchmarkt (ohne Schul- und Fachbücher) fast vier mal so stark gestiegen, wie bei Amazon. Das spricht deutlich für die digitalisierten Kleinen und Renk stellt klar: „Unser Shop ist inzwischen regional verankert, dies hätten wir mit viel Marketinggeld so wohl nicht hingebracht.“
Die regionale Verankerung, das Brennen für Bücher, deren Liebhaberinnen und Liebhabern in den Buchhandlungen eine erlebnisreiche Umgebung geboten wird, oder die Tatsache, dass die Wagner’sche innerhalb von 24 Stunden auf ein Sortiment von sechs Millionen Büchern zurückgreifen kann, macht die Buchhandlung unschlagbar. Auch und gerade in Krisenzeiten. „Das ist ein kleines, charmantes Unternehmen und kein mittelständischer Konzern. Allein Bücher so schnell liefern zu können und damit besser zu sein, als die weltweit Großen, die hier Standards setzen, hat sehr sympathische Züge und zeigt, was auch für die Kleinen möglich ist. Hier schlägt Kopf Kapital“, sagt Mario Eckmaier.
Den Schlagworten voraus
Herauszufinden, was möglich ist, bleibt keinem Kleinen und auch nicht den größeren Händlern erspart. Im Tiroler Oberland zeigt beispielsweise der Gastronomiegroßhändler „Der Grissemann“, wie es gelingen kann, die beiden, den Handel in weiten Teilen bestimmenden Schlagworte unserer Zeit, zu vereinen: Regionalität und Digitalisierung. Der Grissemann, der zur Eurogast Österreich GmbH zählt, dem Zusammenschluss von elf privaten Gastronomiegroßhändlern in Österreich, spielt ziemlich dynamisch auf dieser Klaviatur und zeigt, wie erfolgreich das über Jahrzehnte gewachsene kaufmännische Know-how in die neuen Sprachen übersetzt werden kann. Mittlerweile wird das Familienunternehmen, das 1886 als kleines Lebensmittelgeschäft im Ortskern von Zams geboren wurde, in vierter Generation geführt.
Seit geraumer Zeit stehen die regionale Herkunft und die nachhaltige Verarbeitung der Produkte im Fokus des online sehr umtriebigen und serviceorientierten Großhändlers, der seine Vielfalt im September 2021 erstmals wieder groß zeigen konnte. Von 7. bis 9. September 2021 fand nach coronabedingter Pause wieder die Gastronomie-Herbstmesse in Zams statt. In diesem Rahmen stellte Geschäftsführer Thomas Walser fest: „Wir haben begonnen, vermehrt regionale Artikel in das Sortiment aufzunehmen, welche auch für den Vertrieb an die Gastronomie geeignet sind.“ Ein starkes Netzwerk aufzubauen, um regionale Produkte auch in großen Mengen zur Verfügung stellen zu können, ist das Ziel. Wie diese Verwurzelung in die digitale Welt eingebettet wird, wurde ebenfalls im Rahmen der Herbstmesse gezeigt.
Vor über zehn Jahren hat Eurogast mit „Best.Friend“ schon ein innovatives System entwickelt, das die täglichen Bestellprozesse in Gastronomie und Hotellerie erleichterte. Dieses digitale System wurde über die Jahre verfeinert und die Kunden konnten im September vor Ort nicht nur die Pro-Variante des robusten Gerätes testen, sondern auch die Best.Friend-App, die den unkomplizierten Einkauf auf dem Smartphone ermöglicht. Der Grissemann schöpft mit starker Eurogast-Rückendeckung die technischen Möglichkeiten voll aus und verleiht parallel dazu – vor Ort quasi – der Regionalität einen Turbo. Maßgeschneidert für die Kunden.

Zauber der Haptik
Apropos maßgeschneidert. Knapp 30 Kilometer westlich von Zams ist ein Tiroler Unternehmen verwurzelt, dessen Kernkompetenzen sich um die mit viel Herzblut hergestellten Produkte und den lokalen Verkauf derselben ranken. In Ötztal Bahnhof sitzt das Unternehmen Astri, eine so kleine wie feine Schneiderei, die sich auf hochwertige und funktionelle Outdoor-Bekleidung spezialisiert hat. Jäger zählen beispielsweise zu den kritischen und offenkundig sehr von den Produkten überzeugten Stammkunden. Seit Alois Strigl das Unternehmen 1964 gründete, wurden weit über drei Millionen „Teile“ – Hosen, Jacken, Hemden und mehr – produziert und verkauft. Mit dem ersten Lockdown war das Verkaufen im hauseigenen Shop unmöglich geworden.
Bis dato hatte Astri keinen reinen Onlineshop betrieben und um auch im Lockdown die Brücke zu den Kunden zu schlagen, wurden neue Wege beschritten. Parallel zu Aktionen auf Facebook oder Whatsapp und der Implementierung von Click & Collect wurde auch ein Online-Shop online gestellt. „Den haben wir dann erweitert und modernisiert. Wir haben beispielsweise Bezahlsysteme wie Paypal und Konsorten an Bord geholt und die Kunden haben das auch akzeptiert. Doch sehen sie uns als Partner, bei dem man das Produkt angreifen kann und das Fachwissen unserer Mitarbeiter wird gesucht“, stellt Clemens Strigl, der das Unternehmen in dritter Generation führt, fest. Wie die Jagenden so wollen auch Käufer und Käuferinnen der Landhausmode des Hauses die neuen Stücke angreifen und sehen. Strigl: „Ein Dirndl muss nun einmal probiert werden. Ja, unsere Geschichte ist eine sehr spezielle.“
Sehr speziell auch, weil die Lockdown-Geschichte von Astri zeigt, dass die Beratung vor Ort und das haptische Erleben nicht durch Online-Käufe ersetzt werden können „Im Lockdown war es oft so, dass unsere Kunden dasselbe Produkt oder ein Erweiterungsprodukt kauften. Wir haben bei den letzten Lockdowns gemerkt, dass die Kunden sehr schnell wieder da sind“, berichtet Strigl, der den Online-Shop als Ergänzung sieht und sagt: „Du brauchst es halt.“ Das ist der Punkt.
Tiroler Multichannel-Meister
Gut möglich, dass es den Astri-Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gar nicht so klar war, dass bei ihnen mit Beratung und Erlebnis zwei Säulen felsenfest verankert sind, die als zukunftsweisend für den stationären Handel gesehen werden. „Die dritte Säule ist die sinnvolle Nutzung der neuen Möglichkeiten“, lenkt Mario Eckmaier den Blick zur digitalen Transformation, die in der Umsetzung so vielfältig sein kann, wie die Handelswelt selbst. „Für manche ist es schon optimal, eine kleine Präsenz zu zeigen. Die Möglichkeiten der Sichtbarkeit zu nutzen, tut allen gut – ob das nun die Visitenkarte im Netz ist, die Fanpage auf Facebook oder eine kleine Online-Kampagne mit Unterstützung der Digital-Lotsen, oder ein Newsletter für Kunden“, sagt Eckmaier und hält fest: „Das sind Schritte, die jeder gehen kann und gehen sollte. Es geht um die Frage, wie gehe ich es an. Wie setze ich den ersten Schritt.“
Der erste Schritt. Er ist es, um den es geht. Eckmaier: „Wer den ersten Schritt nicht setzt, wird nie wissen, was möglich wäre.“ Das wusste auch Andreas Giner nicht, als er in der Hitze der wirrwilden Gefechte des ersten Lockdowns gleichsam über Nacht zum Multichannel-Meister wurde. Giner ist Geschäftsführer von Gemüse Giner mit Sitz in Hall und Feldern in Thaur. Das traditionsreiche Agrarunternehmen belieferte bis dato – bis zum ersten Lockdown also – hauptsächlich die heimischen Gastronomiebetriebe mit wohlschmeckenden Grundlagen und die Verzweiflung war riesig, als die Kühllager zum Bersten voll, die Gastronomiebetriebe aber plötzlich zu waren. „Beim ersten Lockdown dachte ich, die Welt geht unter. Ich bin vor den Trümmern meines Schaffens gestanden. Doch ich bin nicht der Typ, der den Kopf in den Sand steckt und sagt, das war’s“, blickt Giner in die wohl herausforderndste Zeit seines Unternehmerlebens zurück.
„Es kann einfach nicht sein, dass der stationäre und regionale Handel unter die Räder der Großen kommt.“
Turbulenter aber auch bunter
Innerhalb kürzester Zeit wurde ein Online-Shop gebaut und zu einer Plattform der Tirol-Regionalität – mit Obst, Gemüse, Fleisch, Chuttneys, und so weiter und so vielfältig. Der Online-Shop bekam mit „dem Gustl“ – einem zum Minigeschäft umgebauten Container – bald einen stationären Zwilling.
„Vielleicht stellen wir heuer noch den neunten Gustl auf“, sagt Giner. Seine Welt ist seit dem 15. März 2020 nicht nur turbulenter, sondern auch bunter geworden ist. In der Zwischenzeit werden im Gustl fast 240 Artikel angeboten von Gemüse Giner selbst und fast 50 regionalen Lieferanten. „Wenn mein Mitarbeiter beispielsweise zum Pflegeheim oder zur Gastro fährt, liefert er auf dieser Strecke gleich die online bestellten Gemüsekisten aus und der gleiche Fahrer füllt auch den Gustl auf dieser Strecke“, erzählt Giner.
Der Wagemut und Einsatz, der hinter dieser Erweiterung des Geschäftsmodells steckt, ist enorm. Und der nächste Schritt ist es auch. „Mit dem ersten Online-Shop sind wir an unsere Grenzen gestoßen. Er stand kurz vor dem Absturz und wir standen vor der Frage hopp oder drop. Entweder wir investieren in einen vernünftigen Shop und holen uns dafür einen geeigneten Partner, oder wir lassen es“, erzählt Giner. Sie haben es nicht gelassen, suchten sich einen Partner, investieren dafür viel Geld und Anfang nächsten Jahres wird der neue Shop online gehen.
„Der Shop heißt meingustl.at und wird die gleichen Produkte anbieten, wie der stationäre Gustl“, verrät Andreas Giner und stellt fest: „Es kann einfach nicht sein, dass der stationäre und regionale Handel unter die Räder der Großen kommt. Wir müssen besser werden, wir sind ja viel näher am Kunden dran. Da haben Amazon und die anderen einen Riesennachteil. Die sind viel zu weit weg. Wir sind da, sind vor Ort und greifbar.“ Da ist sie wieder. Die David gegen Goliath-Geschichte. Und auch sie kitzelt Hoffnung, weckt Kampfgeist. Und sie reizt.